Jonas Lüscher – Kraft

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Theodizee oder Technodizee?

In Jonas Lüschers Debütroman Kraft dreht sich alles um die Frage nach dem Theodizee-Problem. Hier soll unter dem Titel „Theodicy and Technodicy: Optimism for a Young Millenium“ ein Wettbewerb im Silicon Valley stattfinden, zu dem auch der Titelheld Richard Kraft, Rhetorikprofessor in Tübingen, eingeladen ist. Hauptmotivation ist für ihn allerdings das Preisgeld von einer Million Dollar. Mit diesem Geld wäre es problemlos möglich, die für beide Seiten unglückliche Ehe zu beenden, ohne dabei finanzielle Abstriche machen zu müssen.

So begibt sich Kraft nach Kalifornien, genauer ans Hoover Institution on War, Revolution and Peace an der Stanford Universität, um dort unter dem Porträt des streng dreinblickenden ehemaligen amerikanischen Verteidigungsministers Donald Rumsfeld die Millionen-Dollar-Frage zu lösen. Wie ihm das gelingen soll, scheint zunächst auch noch ganz einfach zu sein:

„Dies ist es, was ich zu tun gedenke. Einen europäischen Ton, in dem sich Leibnitz‘ Optimismus und Kants Strenge mit Voltaires verächtlichen Schnauben und Rabelais‘ unbändigen Lachen verbinden und sich in Hölderlin’schen Höhen mit Zolas Gespür für das menschliche Leiden vereinigen wird und Manns Ironie…nein, Mann würde er außen vor lassen, diesen halben Kalifornier.“

Doch selbst mithilfe dieser großen Namen ist die Frage nicht zu beantworten. Denn statt sich mit dem Wettbewerb zu beschäftigen, wird Kraft mehr und mehr von seinen Erinnerungen eingeholt, die zudem mit seinen persönlichen Problemen verbunden sind.

Während er sich im Silicon Valley aufhält, lebt Kraft bei seinem Studienfreund und ehemaligen Mitbewohner István, mit dem er in Berlin linken Demonstranten entgegentrat, um sie mit ihren stichhaltigen Argumenten von neoliberalen Ideen zu überzeugen. Und hier zeigt sich bereits in seiner Jugend, was umso mehr für Krafts Gegenwart gilt: er ist ein Schwadroneur, der mit Theorien und Namen nur so um sich wirft, sein Gegenüber verwirrt, aber letztlich nichts sagt und sich hinter Autoritäten und Theorien versteckt:

„Für die Anschlussfähigkeit ein roter Faden vom späten Heidegger, Nietzsche oder Schopenhauer, dann zur Abgrenzung ein paar Randmaschen aus der dichten Unterwolle Huntingtons, aus dem Querfaden heraus ein paar rechte Maschen eines obskuren, vermutlich zu Recht in Vergessenheit geratenen chilenischen Ökonomen aus der Chicagoer Schule, den er in den frühen Achtzigern gelesen und dank seines phänomenalen Gedächtnisses auch nach dreißig Jahren noch zitieren kann, eine halbe Nadellänge Finkielkraut für die Empörung, eine halbe Nadellänge Hölderlin fürs Gemüt, für die Authentizität ein paar Schläge aus einem eigenen, kürzlich im Merkur publizierten Aufsatz, und zur ironischen Imprägnierung, aber auch als vorsorglich offen gehaltener Fluchtweg, lässt er gerne noch ein paar Maschen Karl Kraus fallen.“

Während er an der Uni noch mit Zitaten neoliberaler Theoretiker seine Mitmenschen beglücken konnte und sich auf den Besuch Reagans und die Geistig-moralische Wende freute, hat er im Kalifornien der Gegenwart sein Alleinstellungsmerkmal längst verloren. So zeichnet Lüscher anhand von Kraft auch eine deutsche Geschichte, die Mitte der 60er beginnt und politisch bis zur Wiedervereinigung reicht. Krafts Leben verläuft von dem Lambsdorff-Papier zu neuen Streaming-Diensten, bei denen er junge Mädchen in ihrem Zimmer beobachten kann.

Als europäischer Intellektueller gestrandet im vom Fortschrittsgedanken und Vertrauen in die digitale Welt geprägten Silicon Valley, fällt es Kraft schwer, den nötigen Optimismus aufzubringen, um die entscheidende Frage zu beantworten. Trotz allen Theorie-Wissens kommt er der Antwort nicht näher. Kraft wirkt durch sein Schwadronieren mehr und mehr lächerlich, was durch die süffisanten Zwischenbemerkungen des Erzählers nur noch verstärkt wird. Ebenso verwendet Lüscher bei der Beschreibung seiner Figuren dermaßen viele Schemata, dass der Verdacht von satirischen Elementen naheliegt. Das Silicon Valley erweist sich für Kraft als eine Art Karikatur dessen, was er sein Leben lang verteidigt und in seinen Theorien wiedergefunden hat. Kraft trifft hier nun auf die Folgen seiner liberalen Vorstellungen. Durch ökonomische Optimierung sind die Menschen hier frei von moralischen oder theologischen Beschränkungen, alles was zählt ist der monetäre Erfolgt. Dafür wird auch schon mal das ‚Problem‘ der Ernährung gelöst, indem es befreit wird „von allen kulturellen Bedeutungen, von allen historischen Bezügen, von allem emotionalen Ballast“. Mithilfe des flüssigen Nahrungsmittelsubstitut ‚Soylent‘, kann sich der Nutzer das zeitraubende, unökonomische und ineffiziente Zubereiten von essen sparen,  ‚Soylent‘ enthält alles, was der Mensch an Nährstoffen benötigt. Konfrontiert mit den Auswüchsen der Realität, muss Kraft feststellen, dass er diese Art von Lebensführung und –optimierung doch so eigentlich nicht gewollt hat.

Der Stil ist dabei den Gedankengängen von Kraft angepasst. Lange Sätze, voller fachterminologischer Ausdrücke und Provokationen spiegeln die Gedankenwelt des Protagonisten wider, so dass sich auch der Eindruck aufdrängt, dass hier das Wie deutlich mehr Gewicht erhält, als das Was. Dazu findet sich vermutlich kaum eine Seite ohne offensichtliche intertextuelle Verweise, die einerseits einiges an Vorwissen voraussetzen und andererseits eine poetologische Funktion erfüllen.

Jonas Lüschers Roman, der, wie der Danksagung zu entnehmen ist, statt seiner Dissertation entstanden ist, stellt aufgrund seiner komplizierten Satzstrukturen, die voller Anspielungen sind, hohe Anforderungen an den Leser. Die Mischung aus einer Intellektuellen-Satire und Kritik an Kapitalismus und Digitalem mit ironischem Unterton hebt sich deutlich von der Fülle an Neuveröffentlichungen ab.

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